Systemisches Konsensieren (SK)

Das systemische Konsensprinzip (SK) ist eine neue (und eigentlich sehr alte) Methode, um Diskussions- und Entscheidungsprozesse effizient zu gestalten. Die Methode wurde von Erich Visotschnik und Siegfried Schrotta entwickelt, steht etwa seit 2006 zur Verfügung und bewährt sich bisher etwa in Unternehmen und NGOs, in Familien und in Bürgerbeteiligungsprozessen auf kommunaler Ebene.

SK für die Stärkung der Demokratie

Die Mehrheitswahl als Methode für demokratische Abstimmungen hat einen großen Anteil daran, dass sich unsere Gesellschaft immer weiter spaltet und polarisiert, da sie immer Sieger und Verlierer erzeugt. Wir glauben, dass SK einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung der Spaltung sowie zur Stärkung und Weiterentwicklung unserer Demokratie leisten kann, weil es verschiedene Eigenschaften in sich vereint:

• Es ist sehr einfach und universal einsetzbar.
• Es unterstützt dabei, Diskussions- und Entscheidungsprozesse effizient zu gestalten.
• Alle Teilnehmenden einer Abstimmung erhalten gleiche Chancen, sich mit eigenen Vorschlägen einzubringen und die Vorschläge der anderen zu bewerten.
• Es bringt gegensätzliche Positionen in einen konstruktiven Dialog.
• Es nutzt die kollektive Intelligenz der Gruppe, um qualifizierte Lösungen zu finden, die von allen mitgetragen werden.
• Mit geeigneten Online-Tools ist es für Abstimmungen in beliebig großen Gruppen anwendbar und skalierbar, z.B. also etwa auch für Abstimmungen mit zehn, hundert, tausend, Millionen oder Milliarden Teilnehmenden. (Man kann auch alleine mit sich selbst konsensieren.)

Die Grundidee

Statt nach der Zustimmung zu einem Vorschlag fragen wir nach dem Widerstand bzw. nach möglichen Einwänden. Damit entsteht ein Anreiz, Vorschläge einzubringen, die bestmöglich alle Einwände und Widerstände berücksichtigen. Zugleich fühlen sich Menschen wertgeschätzt und ernst genommen, wenn Ihre Einwände und Widerstände gehört werden und in die Lösung einfließen. So wächst die Bereitschaft, anderen entgegenzukommen und Zugeständnisse zu machen. Systemisches Konsensieren erzeugt eine Gruppendynamik, in der sich alle Teilnehmenden mit ihren Positionen aufeinander zubewegen. Es wirkt in diesem Sinne „systemisch“ und das heißt auch: unabhängig vom anfänglich guten Willen der Beteiligten.

Vorgehensweise

SK lässt sich für einfache und komplexe Fragen, in kleinen und großen Gruppen, in schnellen und ausführlichen Varianten nutzen. Je nachdem, wieviel Zeit sich eine Gruppe zur Beantwortung einer Frage nehmen möchte, kann die Vorgehensweise entsprechend angepasst werden.

Die Einwandfrage: Die häufigste und einfachste Art, wie systemisches Konsensieren benutzt wird, ist die sogenannte „Einwandfrage“. Wenn ein Vorschlag im Raum steht, kann irgendjemad fragen: Wer spürt einen Widerstand gegen diesen Vorschlag? Wenn sich niemand meldet, ist der Vorschlag bereits beschlossen. Wenn sich doch jemand meldet, hört man die Einwände an und kommt so sehr schnell zu einem neuen, besseren Vorschlag. Mit dieser Vorgehensweise wird die Diskussion fokussierter und es lässt sich viel unnötige Diskussionszeit einsparen.

Die Widerstandsmessung: Gibt es mehrere Vorschläge, kann man eine Widerstandsmessung durchführen. Dabei empfiehlt es sich, zunächst eine offene W-Frage (Wie…, was…, wo…, ?) zu formulieren, die möglichst viel Spielraum für unterschiedliche, kreative Lösungen lässt. Anschließend werden Vorschläge gesammelt und für alle Teilnehmenden der Abstimmung sichtbar (z.B. auf einem Flipchart) notiert. Und so funktioniert die Abstimmung: Eine Moderatorin fragt für jeden Vorschlag einzeln: „wie stark ist euer Widerstand gegen Vorschlag A (B, C, D, …)?“ Die Teilnehmenden können den Vorschlag dann mit 0 – 10 Widerstands-punkten (WP) bewerten. Dabei bedeuten 0 WP: „kein Einwand gegen diesen Vorschlag“ und 10 WP: „maximaler Widerstand“. Die Teilnehmenden zeigen ihren Widerstand z.B. einfach mit den zehn Fingern. Der/die Moderator*in addiert alle Widerstände und schreibt die Gesamtzahl neben den Vorschlag. Der Vorschlag, der schließlich den geringsten Gesamt-widerstand erzeugt, gilt als ausgewählt. Das Ergebnis lässt sich auch als Akzeptanz (z.B.: 30 % Widerstand = 70% Akzeptanz) ausdrücken. Anders als bei herkömmlichen Konsensverfahren begnügt man sich bei SK mit der aktuell bestmöglichen Annäherung an den Konsens (Konsens = 100% Akzeptanz).

Die Passivlösung: Bei herkömmlichen Konsensverfahren haben alle Teilnehmenden einer Abstimmung üblicherweise ein Vetorecht. Damit erhalten Einzelne die Macht, Entschei-dungen zu blockieren. Keine Entscheidung zu treffen, nichts zu ändern oder nicht zu handeln, wird beim Systemischen Konsensprinzip jedoch einfach als ein möglicher, legitimer Vorschlag unter anderen angesehen. Er wird standartmäßig als sog. „Passivlösung“ zu den anderen Vorschlägen hinzugefügt und wie alle anderen Vorschläge bewertet. Mit SK gibt es somit kein Vetorecht und keine Entscheidungsblockaden. Es lohnt sich jedoch immer, hohen Widerständen auch eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.

Kreative Kommunikation: In einer ausführlichen Variante wird die Widerstandsmessung zunächst für ein Stimmungsbild eingesetzt. Im anschließenden kreativen Austausch stellen sich die Teilnehmenden gegenseitig zwei Fragen: „Welche Bedürfnisse sind für dich bei meinem Vorschlag nicht erfüllt?“; „Wie könnte ich meinen Vorschlag ändern, damit du weniger Widerstand gibst?“ Nach dem kreativen Austausch können neue Vorschläge eingebracht werden und es folgt die abschließende Abstimmung. (vgl Abb.1)

Online-Tools: Mittlerweile stehen verschiedene Tools für online-Konsensierungen zur Verfügung (z.B. www.acceptify.at). Ähnlich wie man ein Doodle für die Terminfindung in einer Gruppe nutzt, kann man eine online-Konsensierung aufsetzen, um eine beliebige Frage zu beantworten. Alle Teilnehmenden können eigene Lösungsvorschläge einbringen und die Vorschläge der anderen bewerten. Vorschlags- und Abstimmungsfristen können flexibel eingestellt werden.

Personenwahlen: Es empfiehlt sich, SK-Wahlen geheim durchzuführen und am Ende nur die Gesamtwertung der drei bestplatzierten Kandidaten zu veröffentlichen. Zu erfahren, dass es starke Widerstände gegen die eigene Person gibt, kann zu Verletzungen führen.

Ein Beispiel

In einem Unternehmen hatten sieben Arbeitsgruppen für ein schwieriges und konfliktträchtiges Problem Lösungsvorschläge erarbeitet. Die Mehrheitsabstimmung (vgl.  blaue und grüne Baken in Abb. 2) führte jedoch zu einem heftigen Konflikt. Ein Großteil der Mitarbeiter wollte die Wahl nicht anerkennen. Auch eine Stichwahl zwischen den beiden bestgereihten Vorschlägen V1 und V2 brachte keine Beruhigung. Schließlich wurde Systemisches Konsensieren ausprobiert. Zu den bestehenden Vorschlägen wurde die Passivlösung hinzugefügt und eine Widerstandsmessung durchgeführt. Als das Ergebnis für alle sichtbar nach der Akzeptanz sortiert angezeigt wurde (vgl. rote Baken in Abb. 2), brach Jubel aus.

Die Passivlösung stellt die Trennlinie zwischen den Vorschlägen dar, die von der Gruppe als Verbesserung gegenüber der bestehenden Lösung und denjenigen, die als Verschlechterung angesehen werden.
Systemisches Konsensieren machte die Ursache des Konfliktes offenbar: ausgerechnet V 1, der nach der herkömmlichen Mehrheitswahl zunächst gewonnen hatte, war zugleich der Vorschlag, der die größte Ablehnung in der Gruppe erzeugte. Auch V2 war schlechter bewertet als die Passivlösung.

Skalierung

Lässt sich Systemisches Konsensieren auch für Abstimmungen mit Tausend, Millionen oder Milliarden Teilnehmenden nutzen? Die Antwort ist: grundsätzlich ja. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum dies mit fortgeschrittenen Onlinetools nicht möglich sein sollte.

Selbstverständlich gilt dabei zu bedenken: Wenn tatsächlich 100.000 Menschen Vorschläge einbringen, kann niemand alle Vorschläge lesen und bewerten. Für dieses Problem kann man sich jedoch viele Lösungen überlegen. Wir nennen hier nur ein Beispiel: Wichtig ist zunächst, dass alle Vorschläge eine statistisch aussagekräftige Anzahl an Einzelbewertungen erhalten. Die besser bewerteten Vorschläge steigen im Ranking auf und werden häufiger angezeigt. Der Vorschlag mit der besten Akzeptanz wird am Ende als Lösung ausgewählt und wurde auch von allen gesehen und bewertet.

Ein möglicher Einwand gegen Abstimmungen im Netz ist, dass man wichtige Entscheidungsprozesse nicht allein im Netz stattfinden lassen sollte, weil für die Meinungsbildung auch die reale Begegnung zwischen Menschen vor Ort wichtig ist.

Die Initiative CoCreActive hat jedoch vor einigen Jahren einen SK-Beteiligungsprozess zum Thema „Bildung und Digitalisierung“ durchgeführt, der online und offline kom-binierte. Der CoCreActive-Beteiligungsprozess könnte prinzipiell auch mit vielen, dezentral und im ganzen Land parallel stattfindenden Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden.

In einer Kick-Off-Veranstaltung entwickelten die Teilnehmenden erste Vorschläge und stellten diese in ein Online-Konsensierungstool ein. Die Teilnehmer der Kick-Off-Veranstaltung wurden in den folgenden Tagen zu Multiplikatoren, indem sie weitere Personen zur Teilnahme am Online-Prozess einluden. Auch über einen lokalen Radiosender wurde zur Teilnahme aufgerufen. Die Online-Konsensierung lief über einen Zeitraum von zwei Monaten, während dessen alle Teilnehmenden weitere Vorschläge einstellen und Vorschläge bewerten konnten. In einer Kreativ-Veranstaltung konnten die Teilnehmenden jeweils einen Vorschlag auswählen, den sie weiterentwickeln wollten. Sie stellten dazu die zwei Fragen: “Welche Bedürfnisse sind für euch bei diesem Vorschlag nicht erfüllt?”, “Wie könnte ich ihn ändern, damit ihr weniger Widerstand gebt?” Dann erhielten sie Feedback reihum von allen Teilnehmenden. Viele äußerten sich anschließend sinngemäß so: “Ich habe so viele wertvolle Anregungen erhalten, wie ich meinen Vorschlag so verändern kann, dass meine Anliegen erhalten bleiben und die Bedürfnisse der anderen integriert werden.” Am Ende des Prozesses erreichten 4 von insgesamt 45 Vorschlägen eine Akzeptanz von über 88 %.

Abb. 1: möglicher Ablauf einer Konsensierung mit kreativer Kommunikation
Abb. 2: Beispiel in einem Unternehmen

Häufige Einwände:

„Widerstände messen klingt so negativ.“

Zustimmung messen fördert Konkurrenz. Jede*r versucht zu erklären, weshalb sein/ihr Vorschlag der beste ist. Durch die Messung des Widerstands geraten die Nachteile der Vorschläge wie von selbst in den Fokus. Oft zeigt sich erst dann, dass nicht der ganze Vorschlag Widerstand erzeugt, sondern es nur kleine Anpassungen braucht, damit ein Vorschlag akzeptabel wird. Mit kreativen Ideen werden Nachteile aufgelöst.


„Ist das Ergebnis nicht der kleinste gemeinsame Nenner?“

Der kleinste gemeinsame Nenner erzeugt gewöhnlich hohen Widerstand. Den geringsten Widerstand, die wenigsten Bauchschmerzen und damit die größte Zufriedenheit erzeugen hingegen Vorschläge, bei denen wichtige Anliegen der Gruppenmitglieder erfüllt werden und alle gewinnen.


„In unserer Gemeinschaft ist die Mehrheitswahl in der Satzung festgeschrieben.“

Überall, wo die herkömmliche Mehrheitswahl als Entscheidungsmethode vom Gesetzgeber oder in Satzungen vorgeschrieben ist, kann Systemisches Konsensieren als kooperative Entscheidungsvorbereitung genutzt werden. Lösungen, die von der Gruppe mit SK entwickelt wurden, passieren die anschließende Mehrheitswahl problemlos.

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